In Russland ist der Grundsatz der Privatautonomie seit zwanzig Jahren im Zivilgesetzbuch verankert (Art. 421 ZGB RF). Dennoch ignoriert die russische Rechtspraxis das Prinzip der freien Vertragsgestaltung bis dato. Das mangelnde Verständnis kommt aus der sowjetischen Denktradition, denn damals galt die Faustregel: „Ist der dispositive Charakter einer Gesetzesnorm nicht ausdrücklich vorgesehen, ist die in Frage kommende Norm als eine imperative (zwingende) Norm zu verstehen und anzuwenden, sodass die Parteien keinerlei Abweichungen (Dispositionen) von der festgehaltenen Regel vereinbaren können“. Zum Beispiel können im russischen Dienstvertragsrecht das freie Kündigungsrecht oder Kündigungsfristen nicht abbedungen werden.
Frei gestaltete Vertragsklauseln laufen daher stets Gefahr, wegen der Abweichung vom Gesetzestext als nichtig erklärt zu werden. Die fundamentale Bedeutung zwischen dem dispositiven Charakter des Privatrechts und des imperativen Charakters des Verwaltungs- oder Strafrechts ist den meisten russischen Juristen gar nicht klar. Eine Debatte über derartige Grundsätze wird in Russland gar nicht geführt.
Eine Abkehr von dieser Rechtstradition stellt der Plenarbeschluss des Obersten Wirtschaftsgerichts der Russischen Föderation (fortan: „OWG RF“) v. 14.3.2014 Nr. 16 „Über die Vertragsfreiheit und deren Grenzen“ dar. Der Beschluss bringt folgende Grundideen prägnant zum Ausdruck:
Enthalten die Vorschriften des Zivilgesetzbuchs der Russischen Föderation (fortan: „ZGB RF“), keinen expliziten Hinweis auf deren zwingenden bzw. dispositiven Charakter, gilt sie als dispositiv. Etwas anderes kann sich im Wege der teleologischen Auslegung ergeben. Sprechen keine wesentlichen rechtspolitischen Gründe für einen zwingenden Charakter der Norm, muss die Norm als dispositiv angesehen werden.
Wendet das Gericht eine zivilrechtliche Norm als imperativ an, so muss es den Charakter der Norm begründen und in der Begründung unter anderem ausführen, welche Interessen und Werte die Einschränkung der Privatautonomie rechtfertigen. Die Einschränkung der Vertragsfreiheit könnte nach Ansicht des höheren Gerichts etwa dann notwendig sein, wenn folgende Aspekte ins Spiel kommen:
- Schutzbedürftigkeit einer schwächeren Vertragsseite, z.B. eines Verbrauchers oder eines Arbeitnehmers;
- Verstoß der Vertragsbedingungen gegen Interessen eines Dritten;
- Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäfts bzw. einzelner Vertragsbedingungen;
- Schutz von Interessen der Allgemeinheit;
- Gestaltungsmissbrauch, z.B. ein gravierendes Ungleichgewicht von Interessen der Vertragsparteien.
Ist im Wortlaut der Gesetzesnorm zwar deren zwingender Charakter vorgesehen, ist das Gericht trotzdem befugt, diese Norm mittels der teleologischen Reduktion für gewisse parteiautonome Abweichungen zu öffnen. Das Gleiche gilt auch für diejenigen Normen, die einen ausdrücklichen Hinweis auf deren dispositiven Charakter enthalten. Auch hier kann das Gericht einschränkend eingreifen, wenn hierfür schwerwiegende Gründe vorliegen.
Stellt das Gericht fest, dass eine der Parteien ihr Recht aus einer dispositiven Norm auf abweichende Vertragsgestaltung bzw. ihr Recht aus einer zwingenden Norm missbraucht, kann dieser Partei insofern der Rechtsschutz auf Grund des Art. 10 ZGB RF verweigert werden, als die umstrittene Rechtsnorm nicht angewendet wird.
Außer der für die Fortentwicklung des russischen Zivilrechts unschätzbar wichtigen Umwandlung der Formel „Zwingend ist jede Norm, die nicht ausdrücklich als dispositiv gekennzeichnet ist“ in die Formel „Ist die Norm nicht ausdrücklich als zwingend gekennzeichnet, können die Parteien eine abweichende Vereinbarung treffen“ kann dem Beschluss noch eine weitere Maxime entnommen werden, die an dieser Stelle unbedingt anzusprechen ist. Denn deren Erwähnung durch das OWG RF ist gleichermaßen wichtig, wie seine Stellungnahme zur Privatautonomie. Gemeint ist die teleologische Auslegung der Gesetzesnormen, die das OWG RF nun als die Hauptmethode der Erschließung des Rechts benennt. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich für einen deutschen Juristen um eine Selbstverständlichkeit. Einen grundsätzlich anderen Stellenwert haben entsprechende Ausführungen des OWG RF innerhalb des Paradigmas des russischen Rechts. Denn hier herrscht seit der Sowjetzeit die grammatikalische Auslegung vor, die auf den Wortlaut der Norm fokussiert, während deren Sinn und Zweck unberücksichtigt bleibt. Der deutliche Hinweis des OWG RF auf die vorrangige Bedeutung der teleologischen Auslegung stellt somit einen weiteren revolutionären Schritt in der Geschichte des russischen Zivilrechts dar.