Zur Verjährung eines Schadenersatzanspruchs in Russland


Die zentralen Verjährungsvorschriften des Zivilgesetzbuches Russlands („ZGB Rus“) sind:

Artikel 196 ZGB Rus (Allgemeine Verjährungsfrist)

(1) Die allgemeine Verjährungsfrist beträgt drei Jahre ab dem gemäß Artikel 200 dieses Gesetzbuchs festgelegten Zeitpunkt.

(2) Die Verjährungsfrist darf zehn Jahre ab dem Zeitpunkt der Verletzung des Rechts, für dessen Schutz diese Frist festgelegt ist, nicht überschreiten, außer in den Fällen, die durch das Föderale Gesetz vom 6. März 2006 N 35-FZ „Über die Bekämpfung des Terrorismus“ festgelegt sind.

Art. 200 ZGB Rus (Beginn der Verjährung)

(1) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, beginnt die Verjährungsfrist mit dem Tag, an dem die Person von der Verletzung ihres Rechts Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen, und mit dem Tag, an dem sie weiß, wer der richtige Beklagte für einen Anspruch auf Schutz dieses Rechts ist.

(2) Bei Verpflichtungen mit einer bestimmten Leistungsfrist beginnt die Verjährungsfrist mit dem Ablauf der Leistungsfrist zu laufen.

Bei Ansprüchen, deren Erfüllung nicht bestimmt ist oder sich nach dem Zeitpunkt der Inanspruchnahme richtet, beginnt die Verjährungsfrist mit dem Zeitpunkt des Anspruchs des Gläubigers auf Erfüllung der Verpflichtung; wird dem Schuldner eine Frist zur Erfüllung dieses Anspruchs gesetzt, so beginnt die Berechnung der Verjährungsfrist mit dem Ende der für die Erfüllung dieses Anspruchs gesetzten Frist. In jedem Fall darf die Verjährungsfrist zehn Jahre ab dem Zeitpunkt, zu dem die Verpflichtung entstanden ist, nicht überschreiten.

(3) Bei Rückgriffsansprüchen beginnt die Verjährungsfrist mit dem Zeitpunkt der Erfüllung der Hauptpflicht.

Zwecks Vereinheitlichung der Russischen Rechtsprechung veröffentlicht der oberste Wirtschaftsgerichtshof Russlands themenbezogene Richtlinien. In Betreff der Verjährung von Schadensersatzansprüchen wegen Geschäftsführerhaftung sieht die Verordnung des Plenums des Obersten Wirtschaftsgerichtshofs der Russischen Föderation Nr. 62 vom 30.07.2013 „Zu einigen Fragen der Leistung von Schadensersatz durch Personen, die Mitglied der Organe einer juristischen Person sind“ (im Folgenden „Plenarverordnung Nr. 62„) vor, dass:

„…in Fällen, wenn die entsprechende Schadensersatzforderung durch die juristische Person selbst angemeldet wird, die Klageverjährungsfrist nicht ab dem Zeitpunkt des Verstoßes gerechnet wird, sondern ab dem Zeitpunkt, ab dem die juristische Person, z.B. der neue Leiter, tatsächlich die Möglichkeit erhalten hat, vom Verstoß zu erfahren, oder wenn der kontrollierende Gesellschafter, dem es möglich war, die Befugnisse des Geschäftsführers aufzuheben, vom Verstoß erfahren hat oder erfahren hätte müssen

1. Auswirkungen strafrechtlicher Ermittlungen auf den Fortlauf der Verjährungsfrist

Während strafrechtlicher Ermittlungen ist zu unterscheiden, ob das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde oder ob ein Strafurteil erging. In beiden Fällen beginnt die Verjährung mit Rechtskraft der jeweiligen Beschlüsse.

a) Bei Einstellung des Ermittlungsverfahrens gilt Tag der Einstellungsverfügung als zivilrechtlicher Verjährungsbeginn.

Laut Rechtsprechung der russischen Obergerichte beginnt die zivilrechtliche Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche aus Straftaten im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft der Einstellungsverfügung der strafrechtlichen Ermittlung. Die meisten Obergerichte leiten den späten Beginn der Verjährung aus der Unschuldsvermutung her, z.B. das Berufungsgericht des Oblast Tjumen[1] und der Oberste Gerichtshof von Nordossetien[2]:

„Unter Berücksichtigung der in der Verfassung der Russischen Föderation verankerten Unschuldsvermutung sowie der Bestimmungen der Artikel 196 und 200 des Zivilgesetzbuches der Russischen Föderation beginnt die Verjährungsfrist für den Ersatz des durch eine Straftat verursachten Schadens mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft der Abschlussverfügung über die Einstellung des Strafverfahrens“.

Andere Obergerichte kommen zum gleichen Ergebnis, z.B. das Berufungsgericht des Oblast Vladimir[3], das Berufungsgericht des Oblast Saratov[4], sowie der Berufungssenat des Obersten Gerichtshofs Tartastans[5] mit der Begründung:

„Die Verjährungsfrist für Ansprüche … auf Schadensersatz berechnet sich ab … dem Zeitpunkt der Entscheidung über die Einstellung des Strafverfahrens, da der Kläger erst ab diesem Zeitpunkt von der Rechtsverletzung durch das schuldhafte Handeln des Beklagten Kenntnis erlangt hat und der Anspruch auf Ersatz des entstandenen Schadens entstanden ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Frage der Rechtswidrigkeit der Handlungen des Beklagten vor dem Erlass des genannten Beschlusses noch nicht geklärt war, so dass die Frage der deliktischen Haftung des Beklagten für den verursachten Schaden erst nach Abschluss des Strafverfahrens geklärt werden konnte.“

Das russische Verfassungsgericht hat mehrfach entschieden, dass der weite Beurteilungsspielraum für die Tatsachen des Verjährungsbeginns nicht zu beanstanden sei[6].

Während laufender strafrechtlicher Ermittlungen bestimmt ferner Art. 44 Abs. 2[7] StPO Rus, dass Zivilklagen bis zur strafrichterlichen Entscheidung zulässig bleiben. Die Erhebung der Zivilklage vor dem Strafgericht ist mit dem deutschen Adhäsionsverfahren vergleichbar.

Die Zivilklage über 4,8 Mrd. Rub ist vorliegend am 09.01.2023 beim Strafgericht zugelassen worden. Der Einwand der Verjährung kann folglich wegen Art. 44 StPO Rus nicht greifen.

b) Kommt es zum Strafurteil gilt die Rechtskraft des Strafurteils als zivilrechtlicher Verjährungsbeginn.

Zuletzt entschied das Oberste Gericht Russlands mit Beschluss vom 01.11.2022, dass, wenn sich der Anspruch auf Schadensersatz aus einer strafrechtlichen Verurteilung ergibt, die Verjährungsfrist im Zivilverfahren an dem Tag beginnt, an dem das Strafurteil rechtskräftig wird (S. 8 des Beschlusses des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 01.11.2022 № 21-КГ22-6-К5 – Определение Верховного Суда РФ № 21-КГ22-6-К5). Früher ließ die Russische Rechtsprechung die zivilrechtliche Verjährungsfrist am Tag der strafrechtlichen Urteilsverkündung beginnen[8].

Die dazu bislang veröffentlichte Literatur bestätigt zum Stand 2014, dass keine Gerichtsurteile bekannt seien, in denen deliktische, durch Straftaten verursachte Schadensersatzansprüche wegen des Verjährungseinwands abgewiesen worden wären, wenn die Klage innerhalb von drei Jahren nach Rechtskraft der strafrechtlichen Verurteilung erhoben wurde (Sergeev A.P., Tereshchenko T.A. Besonderheiten bei der Berechnung des Beginns der Verjährungsfrist, wenn schädigende Handlungen gleichzeitig eine Straftat sind, in: Arbitration Disputes N4 2014)[9]. Die genannten Autoren weisen in einer anderen Publikation darauf hin, dass bei Vorliegen von Straftaten einige Gerichte den Einwand der Verjährung wegen Rechtsmissbrauchs ablehnten (ЖУРНАЛ «ЗАКОН» № 8 Август 2014).

2. Folgen der Unkenntnis des Aufenthaltsorts des Schädigers auf den Beginn und Fortlauf der Verjährungsfrist

Die Kenntnis des richtigen Beklagten für den Verjährungsbeginn ist seit 2013 im Art. 200 ZGB Rus kodifiziert (Beginn der Verjährung, „…weiß, wer der richtige Beklagte für einen Anspruch auf Schutz dieses Rechts ist“.). Die Rechtsprechung wendet den Grundsatz konsequent an[10].

Die russische Rechtsprechung fordert dabei auch die Kenntnis vom Wohnsitz. Zur Begründung lässt sich Ziff. 3 Abs. 2 der „Zusammenfassung der gerichtlichen Praxis in Fragen, im Zusammenhang mit der Anwendung von Rechtsnormen der Verjährungsfrist“ – erstellt durch das Oblastgericht Nischni Nowgorod[11] – heranziehen. Darin heißt es: Gemäß Art. 131 der russischen Zivilprozessordnung hat die Klageschrift u.a den Wohnsitz des Beklagten enthalten. Andernfalls würde die Klage nicht zugelassen (Art. 136 der Zivilprozessordnung). Das Fehlen der oben genannten Informationen über den Beklagten hindert also den Kläger an der Einreichung der Klage, weshalb die Verjährungsfrist ab dem Zeitpunkt zu berechnen ist, an dem der Kläger von der Identität des Verletzers dieses Rechts Kenntnis erlangt. In der Wirtschaftsprozessordnung finden sich gleichartige Normen.

Im Übrigen verlangt auch der deutsche BGH für eine ordnungsgemäße Klageerhebung grundsätzlich die Angabe der ladungsfähigen Anschrift der Partei (BGH, Urteil vom 09.12.1987 – IVb ZR 4/87, BGHZ 102, 332, 335 f.). Das gilt auch dann, wenn die Partei durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist.


[1] Beschluss des Berufungsgerichts Oblast Tjumen vom 07.07.2014 г. (N 33-3413/2014) – Апелляционное определение Тюменского областного суда от 7 июля 2014 г. по делу N 33-3413/2014.

[2] Berufungsbeschluss des Obersten Gerichts Nordossetien-Alania vom 08.09.2022 (N 33-1903/2022) – Апелляционное определение Верховного суда Республики Северная Осетия-Алания от 08.09.2022 по делу N 33-1903/2022.

[3] Beschluss des Berufungsgerichts des Oblast Vladimir 02.05.2017 (N 33-1207/2017) – Апелляционное определение Владимирского областного суда от 02.05.2017 по делу N 33-1207/2017.

[4] Апелляционное определение Саратовского областного суда от 25.04.2018 N 33-2810/2018.

[5] Beschluss des Obersten Gerichts Tartastans vom 11.08.2016 (N 33-13300/2016) – Апелляционное определение Верховного суда Республики Татарстан от 11.08.2016 по делу N 33-13300/2016.

[6] Beschlüsse des Russischen Verfassungsgerichts vom 20. Oktober 2011 N 1442-0-0, vom 25. Januar 2012 N 183-0-0, vom 16. Februar 2012 N 314-0-0, usw.).

[7] Art. 44 Abs. 2 StPO RF: (2) Nach Eröffnung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens können zivilrechtliche Klagen beim Erstinstanzgericht bis zum Abschluss des strafrechtlichen Gerichtsverfahrens erhoben werden.

[8] Beschluss des oberen Wirtschaftsgerichts der Russischen Föderation vom 27.03.2012 N ВАС-17802/11, Revisionsbeschluss des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 11.12.2013 N 19-АПУ13-36; Entscheidung des Wirtschaftsgerichts des Moskauer Gebiets vom 03.09.2007 N КГ-А40/8470-07.

[9] https://arbspor.ru/articles/940/ Сергеев А.П., Терещенко Т.А. Особенности исчисления начала течения исковой давности, если вредоносные действия являются одновременно преступлением в Арбитражные споры N4 2014.

[10] Z.B. Постановление Пятнадцатого арбитражного апелляционного суда от 14.09.2015 N 15АП-8651/2015 по делу N А32-35507/2014.

[11] „Обобщение судебной практики по вопросам, связанным с применением норм закона, регулирующих исковую давность“ – подготовлен Нижегородским областным судом.