1. Einführung zum Eigentumsvorbehalt in Russland
Die russische Rechtswissenschaft vernachlässigt den Eigentumsvorbehalt stark. Gesetzlich geregelt und anerkannt ist nur der einfache Eigentumsvorbehalt (Art. 491 ZGB). Die verschiedenen erweiterten Formen sind dem russischen Recht gänzlich unbekannt. Diesen Schluss lassen auch zahlreiche Gespräche mit russischen Praktikern zu.
Wegen den Vertriebsketten im Exportgeschäft über Zwischenhändler bis zum Endkunden nützt es dem Lieferanten wenig, seine Ware nur unter einfachem Eigentumsvorbehalt zu verkaufen. Deshalb hat sich in Deutschland der „verlängerte Eigentumsvorbehalt“ entwickelt. Danach ermächtigt der Lieferant den Zwischenhändler zum Weiterverkauf der nicht bezahlten Ware und lässt sich dafür im Voraus die Kaufpreisforderungen aus dem Weiterverkauf als Sicherheit abtreten. Zahlt der Zwischenhändler nicht, kann der Lieferant anstelle der Ware also noch den Kaufpreis vom Endkunden realisieren. Meistens erhält der Zwischenhändler eine Einziehungs- und Prozessermächtigung zur Einziehung des Kaufpreises. Die Abtretung zukünftiger Forderungen ist in Deutschland anerkannt. Zwar gilt auch im russischen Recht der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Die Zulässigkeit der Vorausabtretung von Forderungen ist im russischen Recht allerdings äußerst fragwürdig.
2. Der verlängerte Eigentumsvorbehalt im russischen Recht
Die russische Rechtsprechung verhält sich traditionell äußerst skeptisch gegenüber dem Prinzip der Vertragsfreiheit. Dieser Grundsatz ist zwar gesetzlich verankert (Art. 1 Abs. 1, 421 ZGB), die Mehrheit der Juristen und Richter praktizieren das Zivilrecht jedoch als zwingendes (imperatives) Recht, so dass Sonderformen von Verträgen oder Abweichungen von gesetzlichen Typisierungen wenig Akzeptanz finden. Die russische Rechtswirklichkeit ignoriert zu oft die Konsequenz der Vertragsfreiheit, nämlich, dass das Zivilrecht grundsätzlich abdingbares (dispositives) Recht ist. Praktisches Beispiel für die fehlende Differenzierung ist die Uniformierung von Zivil- und Verwaltungsge-richtsbarkeit in einem Gericht. Für beide Prozessarten kommt die gleiche Prozessordnung zu Anwendung.
Die Berufung auf die Vertragsfreiheit reicht vor russischen Gerichten also nicht1. Die Abtretung zukünftiger Forderungen ist eine rechtliche Fiktion, die nur zu bejahen ist, wenn sie ihre Grundlage im Gesetz findet. In Art. 826 II ZGB ist dies für das Factoring geregelt. Auch das russische Bürgschaftsrecht kennt die Besicherung zukünftiger Forderungen. Eine generelle Anerkennung der Vorausabtretung auf andere Geschäfte wird zwar in der herrschenden Literatur gefordert, in der Rechtsprechung hält man die Vorausabtretung aber überwiegend für unzulässig.
In einer wichtigen Entscheidung aus dem Jahr 2001 (Постановление президиума Высшего Арбитражного Суда РФ от 9 октября 2001г. № 4215/002) hielt das Gericht eine Abtretung nur dann für möglich, wenn die Forderung zeitlich vor der Abtretung bestanden habe. Damit ist grundsätzlich eine zukünftige Forderung nicht im Voraus abtretbar. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn die Forderung nicht mehr von einer Gegenleistung abhänge, der abtretende Gläubiger also vorleistungspflichtig ist und die Ware ausgeliefert hat. In der Entscheidung konnte somit ein zukünftiger Gaslieferungsanspruch ab-getreten werden, da der Gaslieferant vorleistungspflichtig war. Für den Regelfall ist die Zulässigkeit von zukünftigen Kaufpreisansprüchen zu verneinen.
Nun könnte man meinen, einfach deutsches Recht im Kaufvertrag zu vereinbaren, welches ein russisches Gericht anwenden müsse. Beim Weiterverkauf schlägt diese Vereinbarung aber nicht auf den Endkunden durch. Die korrekte Anwendung des deutschen Rechts ist in Russland zudem nicht zu erwarten. Diese Konstruktion muss dem Richter erst mühselig erklärt werden. Hinzu kommt eine weitere russische Spitzfindigkeit: Sowohl in der Klage als auch im Urteil sind die Normen zu zitieren, auf die sich ein Anspruch stützt. Für den verlängerten Eigentumsvorbehalt gibt es jedoch keine expliziten Normen nach deutschem Recht. Prozessuale Folge ist die Abweisung der Klage. Im Fall OOO Kraund ./. OAO Baltika3, war der Vortrag der beklagten Endkundin dahingehend, dass der Kläger die Etiketten – ohne Eigentümer zu sein – gar nicht hätte verkaufen können bzw. nur dann hätte verkaufen können, wenn die Kaufpreisforderung an den Lieferanten abgetreten wurde, gar nicht erst zugelassen worden. Das ist ein Verstoß gegen dass richterliche Gehör und es wird deutlich, wie ablehnend sich die Gerichtspraxis verhält.
Die Rechtsprechung hat sich bisher nur mit dem einfachen Eigentumsvorbehalt beschäftigt und legt diesen sehr eng aus4. Der verlängerte Eigentumsvorbehalt kommt in der russischen Rechtsprechung praktisch nicht vor, allenfalls Elemente davon, wie z.B. die Vorausabtretung des oben behandelten Urteils.
Die Fürsprecher des verlängerten Eigentumsvorbehalts finden sich in westlichen Publikationen. In russischen Publikationen findet man allenfalls den Hinweis, dass eine gesetzliche Regelung wünschenswert wäre5.
Gez. RA Geisthardt
1In einem konkreten Fall Töpfer Kulmbach GmbH ./. ZAO Nevsky Bereg A56- А56-58327/2010/ з 1 erkannte das Wirtschaftsgericht St. Petersburg eine Garantie auf erstes Anfordern nicht an, denn ein Verweis auf die Vertragsfreiheit und Rechtspre-chungsgrundsätze und international anerkannte Normen (ICC Rules for demand guarantees No. URDG 458) reiche nicht für ein wirksame Vereinbarung nach russi-schem Recht. Außerdem müssen nach dem russischen Prozessrecht die Normen zitiert werden, auf die sich der Anspruch stütze. Diese Normen fehlten.
2Abgedruckt in ВВАС РФ, 2002 № 1, С. 53 и след..
3OOO Kraund ./. OAO Baltika А56-4922/2011 Entscheidung des Wirtschaftsgerichts St. Petersburg aus 2011.
4Постановление ВАС 02.03.2010 Nr. ВАС-1973/10 по делу Nr. A56-39045/2008; Постановление ФАС Северо-Западного округа от 07.11.2007 по делу № А13-2280/2007; Постановление ФАС Центрального округа от 15.01.2010 № Ф10-5528/09 по делу № А09-1468/2009; Постановление Федерального Арбитражного суда Волго-Вятского округа от 21.06.2010 по делу № А11-7983/09; Определение ВАС РФ от 04.02.2008 по делу № 493/08.
5So z.B. Васнев, ВВАС № 10, С. 27 (40).